Der Prokrastinator

Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich zu belohnen. Mein erstes Halbjahr 2016 war angefüllt mit Prüfungen und Terminen und Fährnissen die es in ihrer Gesamtheit durchaus gerechtfertigt hätten, sich mal was zu gönnen. Ich hatte darum begehrliche Blicke auf eine neue Prokrastinationsmaschine geworfen; präzise ging es m eine Spielekonsole und zwei, drei Titel, die mich wirklich interessiert hätten. Ich werde jetzt nicht auf meinen diesbezüglich bevorzugten Hersteller eingehen, weil sowas immer zu unnötigen Diskussionen, rumgebitche und gebashe führt. Die Scheiß Fanboys können halt einfach nicht ihre Fresse halten, wenn sie meinen, über irgendwas irgendwas zu wissen. Ich weiß nicht wieso, aber Dogmatiker gibt es überall und komischerweise sind sie oft umso penetranter, je unwichtiger das Thema ist. Oder stirbt man neuerdings, wenn ein Wohnzimmer-Gadget nix taugt? Ist aber auch alles egal, denn bisher kam es noch nicht dazu, weil ich mich schlicht nicht getraut habe, mich selbst der Versuchung fortgesetzter Zerstreuung auszusetzen.

Oh ja, Freunde, ich bin mir meiner Affektinkontinenz schmerzvoll bewusst. Und sie nervt! Wenn ich mal an etwas Gefallen gefunden habe, fällt es mir verdammt schwer, wieder davon zu lassen, selbst wenn ich weiß, dass es eigentlich wichtigeres zu tun gäbe. Ich würde allerdings meinen Hintern verwetten, dass ich da nicht der einzige bin, dem es so geht. Ist euch da draußen sowas eigentlich ein Trost? Wie dem auch sei, ich wollte mir die Dinge einfacher machen, weil mir ja bewusst ist, dass ich dieses Jahr noch ein paar wichtige Aufgaben zu erledigen habe und ich meine Ansprüche an die Qualität meiner Arbeit auch nicht unbedingt senken möchte. Immerhin versuche ich gerade, etwas aufzubauen.

Wisst ihr, wie blöd das ist, wenn man nun – teils freiwillig, teils aus Notwendigkeit – an verschiedenen Projekten arbeitet und nun doch dauernd auf dieses Gadget schielt, dass man sich zuvor versagt hat, um sich nicht abzulenken? Super Plan, dass mit der Anschaffung eine neuen Prokastinationsmaschine auf später zu verschieben, oder? Ich jedenfalls bin fast überhaupt gar nicht abgelenkt von den sehnsuchtsvollen Gedanken daran, endlich mal wieder ein paar Nächte durchzuzocken. OK, bei mir sind es nur noch maximal halbe Nächte, aber ich bin ja auch schon über 40… Am besten ist allerdings die Reaktion meiner Frau auf solche Äußerungen. Sie hat da überhaupt kein Mitleid mit mir, denn seit wir Kinder haben, kommt sie selbst nicht mehr dazu; womit ich in unserem Haushalt diesbezüglich tendenziell der Lucky Guy bin. Wenn sich’s doch nur auch so anfühlen würde!

Ich werde noch ein bisschen standhaft bleiben, denn zumindest eine Sache muss in jedem Fall noch fertig werden. Aber so ganz generell – mal so abseits meiner eigenen, unwichtigen Probleme – erscheint mir die Fähigkeit zum Bedürfnisverzicht bei den Menschen immer weniger ausgeprägt zu sein. Denn wenn ich mir zum Beispiel ansehe, wie oft mache Menschen mir neue Gadgets unter die Nase reiben… Stop! Könnte es sein, dass ich gerade projiziere? Ach, ist doch egal, ob dies so ist, oder nicht; es fällt mir einfach schwer zu glauben, dass immer kürzere Produktzyklen, immer aggressivere Werbestrategien, eine immer größere Durchdringung der Gesellschaft mit sozialen Medien und das daraus resultierende Gefühl dauernder Verfügbarkeit von allem und jedem, nicht zu größerer Ungeduld führen.

Zumindest kommt es mir so vor, als wenn wir auf mediale Affektinkontinenz dressiert würden. Ich werde jetzt keine Verschwörungstheorien bezüglich koordinierter Konsumkontrolle durch den „staatlich-industriellen Komplex“ dahin fantasieren, denn sowas ist Käse. Aber ich finde, es ist einen Gedanken wert, wie leicht wir uns durch Ereignisse oder Gadgets vom Wesentlichen ablenken lassen, nur um uns dann hinterher trotzdem schlecht zu fühlen. Da steht sicher kein Masterplan der Illuminaten dahinter, aber es gibt immerhin eine ganze Branche, die sich nur damit beschäftigt, in Konsumenten Bedürfnisse zu erzeugen – man nennt dies Werbung! Und schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich der einflusseiche Publizist Walter Lippmann in seinem Buch „Public Opinion“ mit der Frage, wie man eben diese manipulieren könne.

Nun fühle ich mich nicht derart manipuliert. Und wenn es so wäre, würde es mich eher wenig kümmern, denn es fühlt sich so an, als hätte ich die Sache zumindest momentan im Griff. Aber irgendwann werde ich wieder prokrastinieren; mit neuem Equipment! Und dann werde ich ein schlechtes Gewissen haben. Nicht nur, weil ich kostbare Zeit verschwenden werde, sondern auch, weil ich dann den vorhin erwähnten Manipulationen doch noch erlegen bin. Weiß nicht, ob’s besser ist, wenn man sich dessen bewusst ist, aber ich beruhige mich mit der Illusion, dass ich dann trotzdem noch volle Kontrolle habe.

Und womit verschwendet ihr so eure Zeit?

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