Der falsche Moment? (Postmodern N°1)

Der Blick über die Stadt schweift durchs Dunkel, denn wie so oft, wenn ich mich an meine Texte mache, ist es spät, was daran liegt, dass die Fülle der Dinge des Tages bewältigt sein möchte, bevor man sich eine wenig Muse zur Kontemplation nehmen kann. Ich kann es auch nicht zwingen. Ich habe diesen Umstand schon des Öfteren erwähnt, aber es ist so gut wie unmöglich, etwas Sinnbringendes zu erzeugen – gleich ob einen Text, oder etwas Visuelles – wenn man nicht in einer Stimmung ist, welche es den Gedanken erlaubt, zu fließen. Nicht selten sitze ich an meinem Arbeitsplatz und denke … und denke … und denke … und es passiert … genau gar nichts!

In solchen Momenten schicke ich meinen mentalen Büroboten durch die Archive, ob er nicht doch noch irgendwo eine nicht zu verbrauchte Idee entstauben könnte; ganz selten findet er noch was Brauchbares, dass ich nicht schon zu häufig durch die Wortmaschine gedreht habe, aber manchmal verstreicht eine Weile, in der es mich einfach nicht packen will.

Und dann ist da der Augenblick! Ein Moment, in dem ich eine – zumindest in meinen Augen – wirklich gute Denkfigur zustande bringe und habe vielleicht gar nicht die Chance, mir dazu Notizen zu machen, oder es ins Diktiergerät zu sprechen. Oh ja, ich habe eines, doch ich vergesse es immer und selbst mein allgegenwärtiges Smartphone – ja auch einen solchen Fluch habe ich mir vor ein paar Monaten aufgeladen – welches ja auch über eine Audionotizenfunktion verfügt, bleibt ungenutzt in der Hosentasche, weil ich ein verdammt altmodischer Typ bin. Ich mag Notizzettel oder ein Whiteboard, auf die ich meine kryptischen Hirnejakulationen schmieren kann, um sie dann später zu ordnen. Doch nicht immer ist zugegen, was man sich gerade als Medium der Transformation von der bloßen Idee zum bewusst Gedachten wünscht und bevor man einen Moment findet, es tatsächlich zu fassen, gleich wie roh und unpoliert es auch zuerst daher kommen mag, ist es oft auch schon wieder im Nirvana des allzu leicht Vergessenen entschwunden.

Kairos; der günstige Moment! Eigentlich der günstige Moment für eine Entscheidung, später – in der Renaissance – zu occasio der günstigen Gelegenheit geworden, versinnbildlicht durch eine weitgehend unbekannte griechische Gottheit, die sich durch eine Nähe zu den Göttern der zufälligen Fügung namentlich Tyche), der Strafung menschlichen Hochmuts (da haben wir Nemesis) und dem Götterboten (natürlich der olle Hermes) auszeichnete. Und tatsächlich passt diese Ordnung, denn mancher Moment für Entscheidungen verstreicht allzu schnell, ist in seinem Auftreten und den Konsequenzen sehr dem Zufall überlassen und allzu oft fällen wir geblendet von der vermeintlichen Brillanz unsers Intellekts Entscheidungen, ohne wirklich zu wissen, was wir da gerade tun.

Es liegt mir fern, behaupten zu wollen, dass es immer so abläuft, doch beispielsweise bei der Ex-Post-Betrachtung verschiedener wichtiger Entscheidungen der letzten Jahre in der Politik oder der Wirtschaft (hier vor allem dem Finanzsektor) drängt sich der Verdacht auf, dass entweder der Kenntnisstand sehr dürftig oder der Horizont so manchen Entscheiders sehr begrenzt gewesen sein muss, sonst hätten wir heute wohl keine Wirtschaftskrise. Oder hat denen allen der Kairos einen Streich gespielt, so wie es mir recht oft mit meinen Ideen passiert? Sind die richtigen Zeitpunkte verpasst oder einfach nur lausig ausgenutzt worden? Auch wenn der Gedanke verlockend ist, die durchaus gravierenden Probleme unserer Zeit dem Schicksal oder einen schlichten Mangel an göttlicher Intervention mittels des inspirativen Funken anlasten zu wollen, würde ich eher dazu tendieren, einigen Leuten einen eklatanten Mangel an korrektem Timing und dem für komplexe Entscheidungen notwendigem Wissen zu unterstellen.

Nun ist der Typus der entwickelten Industriegesellschaft – und in genau so einer leben wir hier in der bunten Republik Deutschland ja – vor allem durch eines gekennzeichnet; nämlich die außerordentliche Komplexität, welche mit der Ausdifferenzierung der mannigfaltigen funktionalen Subsysteme und der daraus notwendigerweise erwachsenden Verflechtung derselben einher geht. Im Klartext bedeutet das, wenn wir mal das viel beschriebene Modell der frühindustriellen Fließbandarbeit, wie sie z.B. Henry Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinen Automobilfabriken eingeführt hat als Analogie benutzen wollen, dass eine Menge unterschiedlicher Arbeitsschritte notwendig sind, um ein Auto zu bauen, dass es aber immer nur ein Teil der Belegschaft versteht, einen bestimmten Schritt zu vollziehen und alle anderen irgendwann zum Stillstand kommen müssten, wenn man eine der vielen hoch spezialisierten Komponente aus dem Gesamtablauf entfernten würde. Zwar sind gesellschaftliche Prozesse nicht linear wie ein Fließband, womit das Beispiel unvollkommen ist, aber man gewinnt eine Idee, dass es sehr dumm sein könnte, z.B. allen Bauern die Existenzgrundlage zu nehmen, eigene Rohstofflieferanten auszuklammern oder das Schulwesen noch weiter zusammenzukürzen; denn alles interagiert miteinander und die Qualität der Ergebnisse des Gesamtsystems korrespondiert mit denen der Teilsysteme.

Dieses Maß an Komplexität in seiner Gänze durchschauen zu wollen, wäre eine Aufgabe, die den alten Sisyphos wie einen Faulenzer dastehen ließe. Es gibt viel zu viele Spieler auf dem Feld, zu viele Partikular- aber auch Gruppeninteressen und damit zu viele mögliche Stellgrößen, als das ein Mensch oder auch nur eine vergleichsweise kleine Gruppe, die wir in diesem Kontext mal Politiker nennen wollen im Ansatz dazu befähigt sein könnte, derlei zu bewerkstelligen.

Ohne jetzt politische und wirtschaftliche Fehlentscheidungen en complet rechtfertigen zu wollen, würde ich hieraus dennoch die Annahme ableiten wollen, dass der Kenntnisstand Vieler, welche sich letzthin – oder auch schon vor längerem, wenn wir in historischen Zeiträumen denken mögen – in der wenig beneidenswerten Position wieder gefunden haben, solche Entscheidungen treffen zu müssen in der Tat eher begrenzt gewesen sein dürfte. Womit sich auch das Problem mit dem Kairos erklären dürfte, denn in der Vielzahl sich nur schemenhaft zu erkennen gebender Momente den richtigen für die richtige Wahl zu finden, gleicht damit eher einem Glücksspiel denn einem bewusst-kognitiven Prozess.

Und damit habe ich meinen ganz persönlichen und vermutlich für jede Region unserer Welt differierenden Anfangspunkt der Moderne ausgemacht; nämlich den Zeitpunkt, da die Komplexität einer Gesellschaft so rapide zuzunehmen beginnt, dass eine echte zentrale Steuerung mangels Möglichkeit zur Überblickung aller für eine Entscheidung Ausschlag gebenden Sachverhalte nicht mehr leistbar wird. Also den Moment, da der Kairos nicht mehr für das Kollektiv von herausragender Bedeutung ist, sondern nur noch für das Individuum. Individualisierung ist damit ein sich aufdrängendes Stichwort, das dem Soziologen Ulrich Beck zugeschrieben werden muss, damit mich hier keiner des Plagiarismus bezichtigen kann. Also schließe ich diese Ausführungen mit einer neuen Frage ab:

Was bedeutet Individualisierung?

Damit diese Antwort nicht zu trocken werden möge, will ich mich dran versuchen, den Sachverhalt ohne Verweise auf andere zu ergründen. Was mich dazu bringt, das ich geschwind was zum Thema Plagiarismus zwischen schieben muss, denn Original ist nicht immer originell und zuviel Zitate kommen einem Selberdenkverbot gleich, doch dazu alsbald mehr.

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