Ist Jammern modisch, oder was?

Es ist en vogue, quasi sowas von krass modern, sich jetzt als vom Arbeitsdruck gestresster, von den mannigfaltigen zivilisatorischen Anforderungen ausgelaugter, vom medialen Dauerfeuer genervter, vollkommen erschöpfter Kämpfer gegen die Verwirrungen des 21. Jahrhunderts zu gerieren; also Flagge zu zeigen gegen zu viel An- und Aufforderungen, gegen Druck und Drama. Ja, sowas von IN ist das! Komisch nur, dass eben dieses Gezuchtel darum, dass man mit dem Kommunikationsmultiplexen und Multitasken nicht mehr mitkommt eben dort stattfindet, wo dieser Druck erst entsteht … nämlich online und ein bisschen auch im Fernsehen bzw. Printmedium.

Da gibt es so schlaue Plakate, auf denen durchaus bewegende Fragen visuell deklamiert werden, wie etwa: „Wie kann ich mir Zeit für mich nehmen?“. Nun ganz einfach du Depp: indem du genau das einfach mal machst: nämlich dein Superduperobercooles Smartphone in die Schublade legst, deine Emails nicht im Stundentakt abrufst, nicht jedem via Gesichtsbüchlein ein Bild von deinem Essen – oder irgendwelchen anderen Belanglosigkeiten – zeigst, dir einfach mal NICHT irgendwelches Cybergeschwätz aufdrängen lässt und stattdessen einfach mal etwas tust, ohne darüber zu chatten, oder zu posten, es zu liken, oder zu sharen oder zu wasweissichsonstnochen.

Kurzer Exkurs: Jemand den ich kenne, schrieb neulich, dass man die Bilder von seinem Essen, die er gelegentlich auf Facebook postet ja nicht ankucken muss, wenn man es denn komischer Weise Banane findet, dass jemand Visualisierungen eines gefüllten Tellers – und manchmal auch das geleerte Danach – online stellt. Dazu folgende Kommunikationspsychologische Anmerkung: Wenn ich jetzt sage, dass die werten Leser bzw. Zuhörer bitte explizit NICHT an lila-blassblau karierte Flugelefanten denken sollen, was passiert dann? Richtig, im Geiste hat man ein mehr oder weniger hübsches Bild von einem lila-blassblau karierten Flugelefanten und gewisse Ähnlichkeiten dieses mentalen Konstruktes zu Dumbo werden sich bei den Meisten von uns vermutlich nur schwer leugnen lassen… Ein Bild, dass irgendwo zu sehen ist, hat einen ähnlichen Effekt, es regt unser Gehirn zum Assoziieren an. Wenn ich einen leckeren Teller Pasta auf meinem Monitor sehe, fragt sich mein Hirn ohne bewusstes Zutun, wie das wohl riecht und ob es genauso gut schmeckt, wie das, was ich selbst zu fabrizieren im Stande bin – und ruckzuck habe ich erstens Appetit und zweitens Zeit verschwendet, obwohl ich mich doch eigentlich gar nicht dafür zu interessieren bräuchte; und zwar weil visuelle Zeichen – und genau das ist eine Fotografie – IMMER eine Signalwirkung ausüben. Ich werde hier jetzt nicht mit Semiotik anfangen, nur so viel: selbst diese Bilder bewusst ignorieren zu wollen, kostet mich in der Gesamtbetrachtung immer noch deutlich mehr Zeit, als wenn diese Menschen ihre Speisenschau einfach bleiben lassen würden. Über den ganzen anderen Mist, der in sozialen Netzwerken geteilt wird, will ich jetzt gar nicht zu reden anfangen.

Zurück bei unseren Stressopfern und der echt saublöden Frage, wie man sich denn nun endlich wieder etwas mehr Zeit für sich selbst nehmen kann, finden wir uns sodann natürlich gleich in der Ratgeberschiene wieder, denn nichts ist heutzutage einfacher, als sich Coach zu nennen und Menschen zum Licht zu führen – einen fetten Obulus für den Führer inbegriffen. „Zum Licht“ sagt allerdings selten etwas darüber aus, ob man sich davor, oder vielleicht doch eher dahinter wieder findet. Da der Begriff Coach nicht geschützt ist und es auch keine geregelte Ausbildung gibt, welche diesem Abziehbildchen von Beruf ein quantifizierbares Qualitätsmerkmal oder eine Legitimation geben könnte, hält sich mein Vertrauen in derlei „Hilfe“ deutlich in Grenzen.

Auch Ratgeber-Bücher oder Artikel in Zeitschriften sind in aller Regel mit Vorsicht zu geniessen, da sich jene Autoren, welche sich zum Schreiben von sowas berufen fühlen nur allzu oft im Methodendogmatismus verlieren – das (O)ne-(S)ize-(F)its-(A)ll Phänomen lässt sich aber nicht nur hier beobachten – oder so wolkigen Blödsinn absondern, dass man auch gleich zum Astro-TV wechseln kann… Moment, ich muss gerade mal meine aufgerollten Zehennägel zurückbügeln! OSFA meint in diesem Kontext übrigens, dass in solchen Publikationen häufig Simplifizierungen benutzt werden, welche die Illusion erzeugen sollen, dass es sowas wie Patentlösungen gibt, die auf jedes noch so individuelle Problem passen. Großes Kino – Riesenunfug!

Was das nun mit der Frage nach dem modisch sein zu tun hat? Nun, ganz nüchtern betrachtet sind sowohl der Hype um ein neues Medium, als auch die üblicherweise mit Ekel einher gehende Übersättigung ein zyklischer Verlauf, den man immer und immer wieder beobachten kann. Beim Internet und seinem bislang größten Auswuchs, den social media platforms ist die Zeitdauer bis zum „Verfall“ des Novelty-Factors lediglich geringer, weil – Achtung Allgemeinblatz, aber trotzdem gültig! – die Zeiten schnelllebiger geworden sind, aber auch Medien sind offenbar Moden bzw. Trends unterworfen.

Im Moment ist es also gerade Mode, sich damit zu brüsten, nicht mehr dauernd erreichbar sein zu müssen, obwohl man es könnte. Das Kokettieren mit medialer Präsenz, der Flirt mit der gefühlten Omnipräsenz, die zuvor doch maximal ER für sich beanspruchen konnte, verleiht einem ein Gefühl von Macht; woraus folgt, dass man sich im diskonnektierten Zustand unwohl, ja sogar ohnmächtig fühlen müsste. Ich kann nicht sagen, ob das beim Gros der Netzwanderer da draußen tatsächlich der Fall ist, was allerdings mich persönlich betrifft, so kann ich freimütig zugeben, dass der Verzicht auf den ganzen Scheiß manchmal schon schwer fällt. Außer im Urlaub – da genieße ich es. In jedem Fall wäre es aber gesünder, unmodisch zu sein und auf Konnektivität zu pfeifen. Mir passiert es gelegentlich, dass ich einmal am Tag mein Smartphone aus dem Telefonschränkchen nehme, darauf einige SMS und Chat-Nachrichten finde und feststelle, dass irgendjemand ganz dringend was von mir wollte. Aber anrufen auf dem Festnetz ist anscheinend nicht mehr IN. MICH kann man da aber, solange ich zu Hause bin am Besten erreichen. Ich schleppe doch nicht den ganzen Tag meinen Kommunikationsdiener mit mir rum, habt ihr sie noch alle? Ist doch total unmodisch, sich mit so einem Riesenteil die Hose auszubeulen! Wer macht den sowas…?

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