Ausbalanciert oder abgestürzt…?

Man spricht immer gerne von der Work-Life-Balance und diskutiert dabei oftmals vor allem Aspekte der zeitlichen und räumlichen Abtrennung von Freizeit und Arbeit. Es gibt wohlfeile Argumente dafür, Arbeits- und Lebensräume aber auch Arbeits- und Freizeit ineinander fließen zu lassen, mit dem Hinweis, dass diese Flexibilität dem Arbeitnehmer ja mehr Freiheiten als der klassische 9-5-Job am festen Schreibtisch ließe. Konträr dazu wird behauptet, dass die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit zu einer Mehrbelastung der Arbeitnehmer führe, weil sie freiwillig durch den empfundenen Konkurrenzdruck der Leistungsgesellschaft einfach immer noch ein bisschen mehr Zeit für die Arbeit investieren würden. Wenn man sich nur genug bemüht, kann man für beide Standpunkte genug Argumente finden.

Ich persönlich finde das Versprechen von mehr Flexibilität am Arbeitsplatz, von free collaborative Workspaces, von veränderten Arbeitsraumwelten etc. ganz interessant, bin allerdings in der – in diesem Fall zunächst dankenswerten – Position, keine Arbeit mit nach Hause nehmen zu können. Den Patienten vom Rettungswagen in unsere Wohnung zu schleifen, um noch ein bisschen weiter zu reanimieren, erscheint mir einfach nicht sonderlich zweckmäßig. Was jedoch die Möglichkeit angeht, die Aufteilung seiner Arbeitszeit und auch den Arbeitsort besser an seine persönlichen Lebensbedürfnisse anpassen zu können, schaue ich natürlich dumm aus der Wäsche, diese Chance ist mir nicht gegeben. Ganz ohne Ironie fasziniert mich der Gedanke ehrlich, meinen Arbeitsalltag so segmentieren zu können, dass ich Zeit für die Arbeit, die Familie und mich hätte, ohne dass ich meine Arbeitsvertraglichen Pflichten darob untererfüllte. Aber in meiner gegenwärtigen Position ist das eben kaum denkbar. Das gilt im Übrigen für einen großen Prozentsatz der Werktätigen. Produktionsstätten kann man nur mit einer gewissen Personaldisposition effektiv betreiben und nur Wenige möchten vermutlich mehrmals täglich ein- und wieder ausstechen, inklusive Umkleide- und Körperpflegezeiten brächte man nämlich im Mittel deutlich mehr Zeit bei der Arbeit zu.

Es drängt sich überdies die Frage auf, ob dies nicht doch der Versuch einer Arbeitszeiterhöhung oder Arbeitsverdichtung durch die Hintertür ist, wenn man bedenkt, dass die Sorge um einen drastischen sozialen Absturz im Fall des Verlustes der Arbeitsstelle seit 2005 deutlich gestiegen ist. Zu der Zeit sind die letzten Gesetze über neue Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, besser bekannt als Hartz-4 in Kraft getreten. Und komischer Weise ist die Zahl der Fehltage durch psychische Erkrankungen seitdem überproportional stark angestiegen. Natürlich kann man unterstellen, dass auch das Problembewusstsein bezüglich seelischer Leiden in der Breite der Gesellschaft in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist; gewiss sind unsere Arbeitgeber durch die sich beschleunigende Globalisierung so gut wie aller Märkte unter bisher nicht gekannten wirtschaftlichen Druck geraten, den sie naturgemäß an das schwächste Glied der Kette, nämlich den einfachen Angestellten durchreichen. Niemand wird sich gerne seine Rendite versauen lassen, schließlich arbeitet man in seinem eigenen Unternehmen ja wohl schon hart genug dafür. Dass die einzige echte Wertschöpfung dabei nur durch die Angestellten geschieht, wenngleich auch manche strategische Entscheidungen sicher schwer wiegen, wird dabei nur zu gerne unterschlagen.

Der erhöhte Druck durch die erheblich größere Zahl an Marktteilnehmern, sowie das gleichzeitige Wegfallen bislang zugegebenermaßen im internationalen Vergleich höchst komfortabler sozialer Kompensationsmechanismen bei Arbeitslosigkeit hat vor allem eines zur Folge: dass die Leute eine Scheissangst vor Arbeitslosigkeit haben. Und diese Angst wird von vielen Arbeitgebern schamlos instrumentalisiert, um den individuellen Workload bis zum Zusammenbrechen zu steigern. Da ist nix mehr balanciert, dass sprichwörtliche Kind ist schon lange abgestürzt; und zwar in den sprichwörtlichen Brunnen und strampelt dort mittlerweile nur noch schwach. Wie viel mehr Scheisse wollen wir uns eigentlich noch gefallen lassen, bevor wir endlich die Chipstüte und das Bier wegstellen, den Fernseher ausmachen und aufstehen; aufstehen und etwas für unsere Rechte tun. Egal, ob gerade irgendein sportliches Großereignis übertragen wird, oder eben nicht mehr. So viel Zeit und Energie, wie hierzulande darauf verschwendet wurde, jedes Tun oder Lassen von Jogis Jungs peinlichst zu sezieren, bevor sie’s dann doch endlich mal geschafft haben, den Pott heimzuholen, kann der Leidensdruck wohl aber noch nicht groß genug sein.

Ihr Gehirncouchpotatoes werdet’s vielleicht schon irgendwann merken, wie schlimm ihr wirklich verarscht worden seid. Dann wagt es aber ja nicht, euch auch noch zu beschweren, denn hinter anzukommen, wie die alte Fasnacht ist feige, dumm und dreist. Bis dahin auch weiterhin viel Spaß bei der selbstverschuldeten geistigen Umnachtung…

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