Ein Gewerk schaffen…?

Ich hatte dieser Tage eine Diskussion über Sinn und Zweck von Gewerkschaften. Und mein Gegenüber vertrat die Ansicht, dass sich Gewerkschaften nur zu gerne als Hüter der sozialen Gerechtigkeit aufspielen, jedoch tatsächlich lediglich die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber Anderen, zuerst den Arbeitgebern aber auch der Gesellschaft insgesamt vertreten würden. Dass die Streiks kleiner Spartengewerkschaften wie etwa Cockpit oder GdL das Ansehen von Gewerkschaften insgesamt noch weiter beschädigen würden, obwohl doch der Nutzen nur sehr Wenigen zu Gute käme. Einem sozialdemokratischen Reflex in mir folgend habe ich Gewerkschaften auf Grund ihrer Errungenschaften für die Rechte von Arbeitnehmern verteidigt, doch es fiel mir schwer, zu dem Zeitpunkt diese Argumente zu entkräften. Vielleicht, weil ich selbst als Mitglied mittlerweile in dem Problem gefangen bin, welches alle großen Gewerkschaften haben: sie sind in ihren eigenen Ritualen erstarrt und haben es sich in neokorporatistischen Arrangements bequem gemacht!

In der Tat wirken junge Leute, die bei einem Gewerkschaftstreffen auf der Bühne Arbeiterkampflieder zum Besten geben, wie ein Anachronismus; andererseits beziehen solche Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern ihre eigentliche Schlagkraft aus dem Wir-Gefühl, aus der Solidarität, die gemeinsame Werte und Zielvorstellungen zu schaffen in der Lage sind. Trotzdem hat zum Beispiel Verdi seit 2001 über 750.000 Mitglieder verloren – das entspricht etwa 36,4% der Mitgliederzahl von 2001! Woran das liegt, kann ich hier nur spekulieren, ich würde allerdings vermuten, dass neue Generationen von Werktätigen in den Dienstleistungsbranchen auf Grund der geschrumpften Reallöhne und der gewachsenen Arbeitsbelastung durch Arbeitsverdichtung keinen Sinn im gewerkschaftlichen Tun mehr sehen konnten und daher das 1% vom Bruttolohn lieber anderweitig verwendet haben. Da hapert es mit den gemeinsamen Werten und den Zielvorstellungen doch erheblich!

Ich betrachte das als ein wenig kurzsichtig, denn gesellschaftlicher Wandel geschieht langsam; so auch ein Umdenken bei Arbeitgebern, die feststellen müssen, dass immer mehr ihrer Packesel nach immer kürzeren Strecken unter der Last zusammenbrechen, die sie denen frecherweise aufgebürdet haben. Die drastisch gestiegene Zahl an Krankentagen auf Grund psychischer Erkrankungen, welche selbst die Krankenkassen mittlerweile anscheinend alarmiert hat, spricht hier Bände. Tatsächlich sind die Gewerkschaften hieran durchaus mit Schuld, da sie sich im jährlich wiederkehrenden Ritual des Tariftanzes auf festgelegte Pfade haben zwingen lassen und ein gutes Stück ihrer Kraft auf die, weitestgehend mit vorhersehbaren Ergebnissen gesegneten, Tarifverhandlungen verwendet haben, obwohl an anderer Stelle die Arbeitsbedingungen immer mieser wurden. Man fühlte sich auch nicht zuständig für Menschen mit Zeit- oder Werkverträgen, für Leasingarbeit und das damit oft einher gehende Lohndumping. Die Gewerkschaften bewiesen hier vor allem eines: ihren Wunsch nach Selbst- und Machterhalt im neokorporatistischen System, weshalb sie sich zu Kompromissen haben drängen lassen, die eigentlich untragbar waren und dieses Pfund kommt jetzt zurück. Allerdings entwertet das alles nicht die gestalterische Kraft, die solche Vereinigungen immer noch haben können, wenn sie sich dieser nur erinnerten.

Das Kampfstichwort des frühen 21. Jahrhunderts ist nicht der Tariflohn, sondern die Arbeitsverdichtung. Hier einzuschreiten und Arbeitgebern die Stirn zu bieten tut dringend Not. Aber noch viel wichtiger ist, für jene mit zu streiten, die selbst zu schwach sind, oder den wahren Sinn einer Gewerkschaft nicht mehr erkennen: nämlich den Arbeitnehmern eine Stimme zu geben, die überall gehört werden muss. Den Mitgliedern ist das Alles sehr wohl bewusst, doch mit den Vertretern von Gewerkschaften ist es ein bisschen wie mit den Volksvertretern – hat man sie mal gewählt, machen sie, was ihnen, beziehungsweise ihrer Fraktion als richtig erscheint. Getreu dem alten Motto: wer glaubt das ein Volksvertreter das Volk vertritt, glaubt auch dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet… Abseits der Polemik bleibt jedoch zu verzeichnen, dass wir ohne Gewerkschaften immer noch über 50 Stunden die Woche arbeiten würden, keinen halbwegs vernünftigen Kündigungsschutz hätten, Arbeitssicherheit keinen so hohen Stellenwert genösse und wesentlich weniger Menschen mit halbwegs auskömmlichen Einkommen leben müssten.

Wer sich ein wenig mit der Entwicklung demokratischer Staatswesen befasst – ich empfehle an dieser Stelle Colin Crouchs Bücher „Postdemokratie“ und „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ – dem ist bewusst, dass all diese Errungenschaften nur auf Zeit sind und das es immer wieder nötig ist, für seine Rechte einzutreten, notfalls auch zu kämpfen. Die Demokratie ist die am wenigsten schlechte Regierungsform, um es mit Winston Churchill zu formulieren, aber sie ist gegenwärtig die Beste, die wir haben und Gewerkschaften sind ein wichtiger Teil davon; ein Baustein zum Erhalt von sozialer und politischer Teilhabe. Zweifelsohne gibt es noch einiges, das nicht erreicht wurde, und ebenso haben Gewerkschaften viele Fehler gemacht. Deshalb jedoch das Prinzip in Frage zu stellen, halte ich, wie schon erwähnt, für gefährlich kurzsichtig. In einem so komplexen Gebilde wie einer entwickelten Industriegesellschaft müssen auch ebenso komplexe Strukturen wie Gewerkschaften sich von Zeit zu Zeit neu verorten, vielleicht sogar neu erfinden. An einem solchen Punkt sind wir angelangt und ich bin gespannt, wohin der Weg führen wird – hoffentlich mit starken Gewerkschaften als Partner und Vertreter aller Arbeitnehmer!

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